Der Reisende

von Ulrich Alexander Boschwitz, Peter Graf (Hrsg.)
Rezension von Manfred Weiss | 14. April 2019

Der Reisende

Deutschland 1938, die Welt im Umbruch vor dem 2.Weltkrieg. Es hat lange schon angefangen, doch noch ahnt niemand das Ausmaß der Explosion. Ein Untergang vor dem es kein Entfliehen gibt. Nicht für Reisende und nicht für Fliehende.

Otto Silberstein, ein in Berlin lebender Jude, ist der Reisende. Es ist November 1938. Die Nationalsozialisten sind an der Macht, aber noch erweckt Deutschland den Anschein trügerischer Normalität. Ottos Geschäftspartner fährt nach Hamburg, um ein großes Geschäft abzuschließen. Doch die SA klopft schon an Ottos Wohnungstüre und seine Flucht beginnt. In zahllosen Zügen, Abteilen aller Klassen eilt er rastlos durch ein untergehendes Deutschland. Orientierungslos auf der Flucht, zwischen dem Wunsch die Heimat zu verlassen und sich zu retten und der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden in einem Deutschland, das ihm ein Leben lang Heimat gewesen ist. Begleitet von seinem verzweifelnden Flehen: “Es gibt so viel Züge … so unendlich viel Züge … Ich will fort!”

Ausweglose Flucht

“Der Reisende” ist ein Roman seiner Zeit. Nicht geschrieben mit dem Wissen historischer Klarheit, sondern als unmittelbare Reaktion auf das Geschehen, das Ulrich Alexander Boschwitz eben selbst, wenn auch aus der Distanz des Exils, erlebt hat. Der Roman ist binnen weniger Monate, beginnend im November 1938 entstanden. Umso verblüffender daher seine Klarheit und auch Weitsicht.
Seine eigene Flucht hat den Autor quer durch Europa geführt, bis in australische Internierungslager, in die viele nach Großbritannien geflohene Deutsche gesendet wurden. Alles endet im Oktober 1942 als das Schiff auf dem er sich befand von einem deutschen U-Boot torpediert wurde und samt Besatzung und Passagieren sank. Ulrich Alexander Boschwitz stirbt 27jährig und mit ihm eine junge und interessante literarische Stimme.
“Der Reisende” komprimiert seine Handlung in wenige Tage. Die Sprache folgt dabei der atem-, aber auch ziellosen Geschwindigkeit der Flucht Otto Silbersteins. Kaum bleibt Zeit für Beschreibungen, da der Hauptheld ständig im äußeren oder inneren Dialog ist. Dabei ist Otto kein durchgängig sympathischer Held. Zerrissen darin sein eigenes Leben und vor allem sein Vermögen zu behaupten und andererseits auch wieder Solidarität mit denen zu zeigen, die dem Geschehen noch schutzloser ausgeliefert sind als er.

The man who took trains

Plötzlich sind alle Verbindungen gelöst. Die Familie seiner Frau versucht sich von Otto, dem Juden, zu distanzieren. Viele Freunde und Bekannte sind bereits ins Ausland verschwunden oder Gefängnisse und Konzentrationslager verschleppt.
Manchmal wirkt Otto auf seiner Flucht in einer kafkaesken Welt unbestimmter Bedrohungen, auswegloser Gesetze und Grenzen, die er nicht versteht, gefangen. Hinter jeder Ecke lauert Unvorhersehbares, das aber doch wieder einer gnadenlosen Logik folgt. Am Ende ist man als Leser fast ebenso atemlos wie der Fliehende selbst.
Obwohl das Buch in Deutsch verfasst wurde erschien es zuerst in englischer Übersetzung. 1939 in Großbritannien als “The man who took trains” und 1949 in den USA als “The Fugitive”. Auf seine deutschsprachige Erstveröffentlichung musste es bis 2018 warten. Schon der Autor war zum Zeitpunkt seines Todes mit einer gründlichen Überarbeitung befasst, die jetzt von Herausgeber Peter Graf nochmals unternommen und vollendet worden ist. Manche historische Glättung mag auch diesem editorischen Eingriff geschuldet sein.

“Der Reisende” ist ein Buch für alle, die Romane mögen, die in ihrer Zeit entstanden, von genau der Zeit erzählen. Daraus entsteht eine besondere Art von Authentizität. Die pure Spannung wird durch die Ausweglosigkeit der Umstände gleichermaßen eingeschränkt wie nochmals intensiviert. Das Buch ist ein historischer Roman, weder durch Krimihandlung noch durch Nebengeschichten abgelenkt. Die Flucht und ihre Umstände sind Zentrum und Gegenstand. Es bleibt auf den 300 Seiten kein Platz für mehr.

Details

Bewertung

  • Gesamt:
  • Spannung:
  • Anspruch:

Könnte Ihnen auch gefallen: