99 Songs


Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts
von Wolfgang Kos
Rezension von Michael Seirer | 08. Februar 2018

99 Songs

Geschichtsbücher über das 20. Jahrhundert gibt es viele. Man findet dort zu unterschiedlichen Ereignissen, wie den Weltkriegen, der Great Depression, dem Kommunismus, zu technologischen Entwicklungen, etwa dem Fernsehen, der Mondlandung, oder zu Themen wie Apartheid oder Feminismus unendlich viel Material. Ebendiese Zeitspanne aber mittels Liedern nachzuzeichnen, ist neu. Wolfgang Kos, der bekannte Radiojournalist und ehemalige Direktor des Wien Museums, wagt diesen Versuch in seinem Buch “99 Songs”.

Eine Art kurzes Vorwort erörtert dabei die Vorgehensweise bei der Auswahl der Titel: Es sollte keine “Bestenliste” werden (was auch immer das heissen möge und wie man diese bestimmt) und auch die meistverkauften oder langlebigsten Werke sollten nicht aufgenommen werden. Gesucht und ausgewählt wurden 99 Songs, die geeignet waren, gesellschaftliche Hintergründe und Zeitumbrüche zu erkennen oder die diese erst ermöglichten. Klar, dass die Auswahl hochgradig subjektiv ist. Manche davon sind politischer Natur, andere zeigen soziale Probleme oder Hoffnungen der Menschen auf. Der Begriff “Song” ist dabei weit gefasst und so ist auch ein Operettenlied von Léhar (die “Lustige Witwe”, Nr. 1) oder die Hymne der Roma, “Djelem, djelem” (Nr. 83) im Buch vertreten.

Auf meist vier Seiten und mit vielen historischen Fotos werden die einzelnen Lieder in ihrer Entstehung und ihre Bedeutung im zeitlichen Kontext beschrieben. Viele der inkludierten Werke wurden von Autorenteams geschrieben und erst durch einen bestimmten Interpreten berühmt. Die Jahrzehnte sind dabei kapitelartig grafisch hervorgehoben und zeigen mittels einer Art Tag Cloud die relevanten Entwicklungen, Protagonisten im  künstlerischen und politischen Umfeld der Periode. Manche der Wörter wirken auf den ersten Blick seltsam, wie zum Beispiel das Wort “Ananas”, werden aber später aufgeklärt. Klarerweise findet man allseits bekannte Titel im Buch wie “Twist And Shout”, “Like A Rolling Stone”, “Strawberry Fields Forever” oder deutsche Songs wie “99 Luftballons” oder “Männer”. Dazwischen aber auch Protestlieder wie “Strange Fruit”, “We Shall Overcome” oder “Little Boxes”, eine als Kinderlied getarnte Kritik an der berechnenden Gleichförmigkeit der amerikanischen Gesellschaft und des Arbeitens am Fließband.

Das Buch bietet mit 320 Seiten einiges an Lesestoff und überzeugt durch ausreichend Hintergrundinformation. Zahlreiche Verweise beziehungsweise Verknüpfungen zu anderen Songs erleichtern das Verständnis und zeigen, dass viele der Strömungen einander beeinflusst haben. Spannend war auch, dass einige Songs zwar berühmt wurden, aber von den Autoren eigentlich ganz anders gemeint waren. Vielleicht hat dieses Missverständnis ja sogar zum Erfolg beigetragen? Obwohl ein klarer Schwerpunkt in den 1960er Jahre zu finden ist, wurden neben geläufigen Namen wie Bob Dylan (er ist sogar als einziger drei Mal vertreten), den Beatles, Rolling Stones etc. auch Künstler aus dem deutschsprachigen Raum in die Liste der 99 Songs aufgenommen, darunter Nena, Herbert Grönemeyer oder Falco.

Die von Wolfgang Kos ausgewählten Songs berühren nur einen Bruchteil der geschichtlichen Ereignisse. Vollständig kann eine solche Liste ohnehin nie sein. Trotzdem gelingt eine interessante Achterbahnfahrt durch das 20. Jahrhundert, seine gesellschaftlichen Strömungen und musikalischen Entwicklungen. Neben den profund zusammengetragenen Informationen punktet das Werk durch ein ansprechendes Layout und viele Fotografien und Platten- sowie CD-Covers der besprochenen Songs. Wer also wissen will, worum es im Song “Video Killed The Radio Star” wirklich geht oder was Paul Simon bei “The Sounds Of Silence” eigentlich im Sinn hatte, sollte sich dieses Buch zu Gemüte führen.

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