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Die Anatomie der Ungleichheit: Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können

von Per Molander
Rezension von Elisabeth Binder | 12. November 2017

Die Anatomie der Ungleichheit: Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können

Spätestens seit der französische Ökonom Thomas Piketty mit seinem 800 Seiten Konvolut zum Kapitalismus im 21. Jahrhundert vor drei Jahren einen Bestseller gelandet hat, ist die weltweit steigende Ungleichheit ein in den Medien und Wahlkämpfen präsentes Leitmotiv. Der Schwede Per Molander, ein langgedienter Politikberater mit technokratischem Einschlag, basiert seinen Erklärungsversuch nicht auf ökonomischen Daten, sondern auf einer Mischung aus Mathematik, Geschichte und politischer Philosophie.

Bereits das erste Kapitel lässt vermuten, dass der rote Faden in diesem Buch schwer zu finden sein wird. Nach ein paar einleitenden Sätzen zum Thema Ungleichheit, der Gleichheitsnormen wie ein "Schatten" folgen (S. 12), geht es recht unvermittelt mit der politischen Philosophie weiter, die sich mit der Frage nach einer "guten Gesellschaft" beschäftigen. Das Interesse des Autors wendet sich dann blitzschnell den Strömungen zu, die sich mit dem einer Gesellschaft zugrundliegendem Sozialvertrag beschäftigen. Auf eineinhalb Seiten wird die Philosophiegeschichte des Sozialvertrags abgehandelt, um dann schließlich mit den drei Fragen zu enden, mit denen sich der Rest des Buchs beschäftigt: "Warum sind alle Gesellschaften ungleich?" "Kann Ungleichheit politisch beeinflusst werden?" Und schließlich: Wie verhalten sich derzeit vorherrschenden "klassischen ideologischen Hauptentwürfe - der Liberalismus, der Konservativismus, der Sozialismus (…) zur Ungleichheit?" (S. 15)

Diese drei Fragen sind symptomatisch für den Rest des Buchs: Wichtige Passagen können leicht überlesen werden, weil sie in einem wenig strukturierten Fließtext versteckt sind. Die Fragen beginnen aussagekräftig und klar, um gleich darauf in teilweise unverständliche Argumentationen abzudriften. Das mag stellenweise der Übersetzung geschuldet sein, stellt aber im Wesentlichen eine strukturelle Schwäche des Textes dar, die sich bis zum Ende durchzieht.

Das anschließende Kapitel nähert sich der Frage, wieso Ungleichheit ein so dauerhaftes gesellschaftliches Phänomen ist. Mit der simplen Erklärung, dass dies wohl mit der unterschiedlichen Arbeitsleistung der Menschen zu haben könnte, macht der Autor schnell den Garaus. Mathematisch lässt sich beweisen, dass sich minimale Ungleichheiten mit der Zeit verstärken, wenn sie nicht durch gesellschaftliche Regeln eingebremst werden. Der folgende historische Abriss der Ungleichheit illustriert wie sich die Formen der Ungleichheit, die sich über Millionen Jahre von den Jägern und Sammlern bis heute gewandelt haben. Das endet schließlich mit einer Ländertabelle der derzeit üblichsten Maßzahl für Ungleichheit, nämlich dem Gini-Index. (Achtung: in diese Tabelle hat sich ein Übersetzungsfehler eingeschlichen: Österreich taucht zwei Mal auf, der schlechtere Wert ist aber eigentlich der von Australien.) Auch in diesem Kapitel gibt es einige Exkurse, die den roten Faden zu einem Wollknäuel machen. Zumindest gibt es am Ende eine gute Zusammenfassung.

Weiter geht es dann mit einem Ausflug in die Spieltheorie. Hier geht es in eine zweite Runde in der mathematischen Erklärung der sich tendenziell selbst verstärkenden Ungleichheit. Für den Autor, der sich seit mehr als 30 Jahren mit Spieltheorie beschäftigt, mag dieses Kapitel an dieser Stelle logisch erscheinen, wer damit noch weniger zu tun hatte wird den roten Faden nur mehr schwer erkennen. Nachgelagert folgen noch ein paar Seiten Kommentar zur Instabilität von Gleichgewichtszuständen. Nach den Ausflügen in Mathematik und Physik kehrt der Autor wieder zur Geschichte der politischen Philosophie zurück, nämlich der Geschichte des Sozialkontrakts, von der Antike bis in die Gegenwart.

In den letzten drei Kapiteln werden dann die drei wichtigsten ideologischen Strömungen, Molander (oder zumindest der Übersetzer) nennt sie interessanterweise "abendländisch", auf ihr Verhältnis zur Ungleichheit untersucht. Der Liberalismus, der Konservativismus und die Sozialdemokratie nehmen wenig überraschend unterschiedliche Positionen ein, wenn es um die Definition und den gesellschaftlichen Umgang mit Ungleichheit geht. Im Kapitel zur Sozialdemokratie finden sich dann auch, wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass der Autor Schwede ist, die einzigen Hinweise auf die im Untertitel angekündigte "Beherrschung" der Ungleichheit. Im Vergleich zur relativ schwer verdaulichen Kost im vorangegangenen 180 Seiten fällt die Schlussfolgerung vergleichsweise simpel aus: "Die wichtige Erkenntnis lautet, dass das Problem, die Ungleichheit auf einem akzeptablen Niveau zu halten, nicht mit einer einzelnen Maßnahme zu lösen ist, sondern ein breites Maßnahmenspektrum erfordert, das darauf abzielt, sowohl die Voraussetzungen des Individuums anzugleichen, sich sein eigenes Leben zu gestalten als auch Ergebnisse wie etwas das verfügbare Einkommen gleichmäßiger zu gestalten." (S. 184)

"Die Anatomie der Ungleichheit" macht ihrem Namen leider an der falschen Stelle zu viel Ehre. Die kunstlose Prosa und die nur schwach miteinander verknüpften Kapitel sorgen für ein sehr ungleiches Leseerlebnis. An vielen Stellen werden komplexe Themen nur angerissen, wohl um das Buch nicht auszuufern zu lassen. Wollte man sich aber so weit in Spieltheorie und Sozialkontrakt vertiefen, um die stark zusammengedampften Argumente des Autors zu nachzuvollziehen oder vielleicht auch zu hinterfragen, müsste man wohl die zwanzigseitige Literaturlist aufarbeiten. Am Schluss bleibt viel Anatomie und wenig zweckdienliche Hinweise, wie denn die Ungleichheit nun eigentlich zu beherrschen wäre.

Details

  • Autor*in:
  • Verlag:
  • Genre:
  • Sprache:
    Deutsch
  • Erschienen:
    09/2017
  • Umfang:
    224 Seiten
  • Typ:
    Hardcover
  • ISBN 13:
    9783864891847
  • Preis (D):
    24 €

Bewertung

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