Mit “1966” greift Frank Schäfer, vielschreibender freier Schriftsteller mit Schwerpunkt Popkultur, ein bewährtes literarisches Geschäftsmodell auf, das sich zwischen Roman und Sachbuch bewegt: Man erzähle die Chronik eines beliebigen Jahrs vor einem historisch bedeutungsvollen Ereignis und versuche die Stimmung von damals mit dem Wissen von heute zu rekonstruieren. So wie das Florian Illies mit “1913” oder Bill Bryson mit “1927” gemacht haben.
Schäfer hat allerdings noch ein zusätzliches Motiv, das Jahr 1966 genauer unter die Lupe zu nehmen: Es war das Jahr in dem sein sonst so schweigsamer älterer Bruder am 23. September vor der ganzen Klasse verkündete, dass er am dem Vortag ein kleines Brüderchen bekommen hätte.
Die 12 Kapitel, also eines pro Monat, werden von einem knappen Vorwort zur Motivation dieses Buch zu schreiben, eingeleitet und schließen mit dem epochalen Ereignis von Frank Schäfers Geburt ab. Jedes der Kapitel weist dieselbe Struktur auf: vorneweg die Number 1 Hits aus Deutschland, England und den USA. Danach folgen kurze Abschnitte zu denkwürdigen Ereignissen aus dem jeweiligen Monat, mit den Schwerpunkten Popmusik (Rolling Stones, Pink Floyd, Jimi Hendrix), Drogen (vorwiegend LSD), Literatur (Peter Handke nimmt es mit der Gruppe 47 bei einer Tagung in Princeton auf), Sport (Deutschland verliert nach Toren, gewinnt aber moralisch gegen England bei der WM in England!) und Politik (Kulturrevolution in China) in ungefähr dieser Reihenfolge. Zur bodenständigen Abrundung werden die Schlagzeilen der Bild-Zeitung für einen Tag aus diesem Monat in Form konkreter Poesie eingestreut.
Bei Rückschauen wie dieser ist vor allem interessant, was die 50 Jahre im kollektiven Gedächtnis überdauert hat und was nicht. Da halten sich nämlich die Skandälchen rund um ein paar aufmüpfige Boygroups hartnäckiger als Katastrophen, die nur knapp nicht stattgefunden haben.
Der Palomares-Vorfall gehört definitiv in diese Kategorie. Ein amerikanisches Kampfflugzeug mit Atombomben an Board (Dr. Strangelove lässt grüßen) kollidiert über der Südostküste von Spanien in der Luft bei einem Tankmanöver mit einem Tankflugzeug, Beide Flugzeuge stürzen ab, drei Wasserstoffbomben landen in einem Wohngebiet, eine im Meer. Zwar wurde keine thermonukleare Reaktion ausgelöst, aber bei zwei Bomben erfolgte eine Zündung der konventionellen Ladung und verursachte damit eine weite Streuung von radioaktivem Material. Die Dekontaminierung ist bis heute nicht abgeschlossen. Neben Bomben fielen in Deutschland zur gleichen Zeit auch Flugzeuge vom Himmel. Die Starfighter, im Volksmund wegen der vielen technischen Probleme mit tödlichem Ausgang auch Witwenmacher genannt, waren unter Verteidigungsminister Franz Joseph Strauß unter zweifelhaften Bedingungen angeschafft worden.
Mit Fremdmaterial geht Schäfer ganz ungeniert und entspannt um. Das Buch enthält unendlich viele Zitate, die zwar ordnungsgemäß mit Anführungszeichen markiert sind,die dazugehörigen Quellenangaben fehlen jedoch in den meisten Fällen. Darüber hinaus liest sich die eine oder andere Stelle wie eine ungelenke Übersetzung aus einem nicht näher benannten englischen Original, wie zum Beispiel hier über die Rolling Stones: “Und so sind es neben den halb versteckten, mit der Zunge in der Backe (!) vorgetragenen Anzüglichkeiten in den Songs immer auch die Skandalmeldungen, die ihre rebellische Imago (!) aufrecht erhalten.” (S. 60)
So ein richtiges Stimmungsbild einer Zeit des “Auf- und Umbruchs” (S. 11) gelingt Schäfer allerdings nicht. Das liegt jedoch nicht daran, dass “die Erzählstruktur sich dem Gegenstand unterordnen” muss (S. 11), sondern hauptsächlich daran, dass Schäfer sich wenig Mühe gibt, das vorhandene Material zu kommentieren. Das Buch erspart den LeserInnen sicherlich das Durchblättern eines Jahrgangs von Zeit, Spiegel und der Bild-Zeitung. Viel mehr an literarischen Zusatznutzen darf man sich von “1966” allerdings nicht erwarten.
Details
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Sprache:Deutsch
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Erschienen:03/2016
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Umfang:200 Seiten
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Typ:Taschenbuch
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ISBN 13:9783701733811
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Preis (D):19,90 €