Kein Wohlstand für alle!?
Wie sich Deutschland selber zerlegt und was wir dagegen tun können
von Ulrich Schneider
Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtverbands, der größten deutschen Dachorganisation sozialer Vereine, weiß genau wovon er spricht, wenn er die zunehmende soziale Ungleichheit in Deutschland anprangert. "Kein Wohlstand für alle!?" ist bereits sein fünftes Buch, das er zu diesem Thema in den letzten 25 Jahren verfasst hat.
Wer also diese Bücher und auch nicht die Armutsberichte kennt, die mit zunehmender Frequenz und Dringlichkeit vom Paritätischen Wohlfahrtverband herausgegeben werden, der bekommt mit Schneiders Buch einen guten Überblick über das Thema. Knapp nach Erscheinen des Buchs gelang es der Deutschen Bundesregierung sich nach einigen Monaten zäher Verhandlungen auf den Wortlaut des 5. Armuts- und Reichtumsberichts zu einigen. In der Leichten Sprache liest sich das so:
Die Bundes-Regierung möchte ein schönes Leben
für alle Menschen in Deutschland.
Viele Menschen sollen Arbeits-Plätze haben.
Und niemandem soll es schlecht gehen.
(http://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Leichte-Sprache/leichte-sprache.html)
Eigentlich ganz einfach oder doch nicht? Wie ernst ist der Politik tatsächlich mit dem schönen Leben in Deutschland? Im ersten Teil widmet sich Ulrich Schneider in großem Detail, aber mit klar belegten Argumenten und Zahlen, der Entwicklung Deutschlands von einem Staat mit einem funktionierenden Sozialsystem zu einem Staat, dem inzwischen auch schon nicht unter dem "Gutmenschenverdacht" stehende Institutionen wie die OECD ein ungesundes Ausmaß an Ungleichheit bescheinigen. Was an dieser Stelle auf jeden Fall geholfen hätte, wäre die grafische Aufbereitung der vielen Zahlen und Fakten in ein paar einprägsame und aussagekräftige Diagramme. Für Interessierte: die findet man zur Genüge in den Armutsberichten des Paritätischen Wohlfahrtsverbands.
Der zweite Teil ist ein Versuch der Erklärung, wie es dazu gekommen ist, dass der Konsens der deutschen Nachkriegspolitik, nämlich die Entwicklung einer tragfähigen Mittelschicht und die weitgehende Beseitigung von Armut, sich langsam auflöste. Schneider führt dabei sehr schön die geistigen Verrenkungen vor, deren es bedarf, wenn Politiker ihre Handlungsspielräume der "unausweichlichen" Logik eines Wirtschaftssystems ausgeliefert sehen und gleichzeitig am anderen Ende des Sozialsystems individuelle Entscheidungen für Armut verantwortlich gemacht werden. Er fasst diesen Missstand mit einem knappen Satz zusammen: "Gerechtigkeit ist das Recht auf Rechtfertigung." (S. 126)
Im letzten Teil geht es Schneider um das Aufzeigen von Möglichkeiten, wie das vorherrschende ökonomische Ungleichgewicht zum Nutzen aller ausgehebelt werden kann. Ausgangspunkt ist für ihn einmal eine "Revolution […] in unseren Köpfen" (S. 127), also eine Umwertung der neoliberalen Selbstverständlichkeiten und Zwänge. Diesen Prozess in die Gänge zu bekommen ist unendlich schwieriger und mühsamer als einmal kurz für den guten Zweck zu spenden oder eine Onlinepetition zu unterschreiben. Schneider führt beispielhaft zwei Bereiche vor, in denen dieses Umdenken beginnen könnte. Da gilt es einmal das Schuldendogma "Schulden muss man zurückzahlen!" (S 127 ff) zu hinterfragen, in dem Gläubiger überhaupt kein Risiko eingehen, während Schuldner immer "schuld" sind. Das reicht vom Konsumkredit für das neue Sofa bis zu ganzen Staaten, die in Geiselhaft von Banken genommen werden, die ihr Risiko längst schon abgewälzt haben. Ungleichheit wird also moralisch verbrämt und nicht politisch erklärt. Aus das neoliberale Wettbewerbsdogma hat tiefe Spuren in Köpfen hinterlassen: "Die ausschließliche Fokussierung auf den eigenen Vorteil war überhaupt nicht mehr peinlich." (S. 136) Mit einem derart erleichterten Gewissen war es nicht mehr schwer, den Nachkriegskonsens zur sozialen Gerechtigkeit erfolgreich als altmodisch und sozialromantisch in Frage zu stellen. Das führte schließlich auch dazu, dass sich die Politik nur mehr darum kümmerte, die im Sinne dieser Dogmen "richtige" Wirtschats- und Sozialpolitik zu machen, und sich nicht mehr um sozialen Ausgleich zu bemühen. Welche Möglichkeiten gibt es nun für die Politik aus dieser selbstgewählten und bequemen Sackgasse? Schneider positioniert sich mit seinen Ideen pragmatisch zwischen der Abschaffung des Sozialstaats und dem bedingungslosen Grundeinkommen. Er setzt den Hebel bei der Sozialversicherung an, einer Institution, die in der Bevölkerung noch immer breite Anerkennung findet. Ein erster Schritt wäre die Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung und die eher erfolglos gebliebenen Versuche der Förderung privater oder betrieblicher Altersvorsorge wieder einzustellen. Dazu gehören auch das Schlachten heiliger Kühe wie der Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze. Interessanterweise ist das in der Schweiz bereits der Fall, also durchaus nicht in einem Land, das sich mit so einer Maßnahme finanziell ruiniert hätte. Neben der Anpassung des Rentensystems führt Schneider auch noch Vorschläge für eine "würdige Grundsicherung im Alter" (S. 165 ff) und eine "armutsfeste Arbeitslosenversicherung" (S. 168 ff) an. Die Finanzierung der breiten Maßnahmenpalette sieht Schneider in einem Steuersystem, das alle Einkünfte erfasst, vor allem auch die aus Vermögen und Erbschaften, die derzeit aus politischer Feigheit nahezu unverschämt niedrig besteuert werden. Das bedeutet also im Vergleich zu den letzten 30 Jahren ein Stopp der Umverteilung nach oben und eine Fokussierung auf Gerechtigkeit gegen die "Notwendigkeit" des unbedingten Gewinnstrebens.
Ulrich Schneiders "Kein Wohlstand für alle!?" enthält mehr als nur ein paar unbequeme Wahrheiten zur zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft, die auch vor Deutschland nicht Halt macht. Er belässt es aber nicht bei der Analyse der manifesten sozialen Ungleichheit, sondern versucht pragmatischen Lösungsansätze für mehr Gerechtigkeit und Würde aufzuzeigen. Es bleibt nur zu hoffen, dass seine Stimme auch bis in die Echokammern des TINA-(there is no alternative)Weltbilds der Politik- und Meinungsmacher vordringen kann.
Details
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Sprache:Deutsch
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Erschienen:02/2017
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Umfang:240 Seiten
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Typ:Taschenbuch
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ISBN 13:9783864891618
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Preis (D):18 €