Das Genie

von Klaus Cäsar Zehrer
Rezension von Bernhard Moser | 29. Januar 2018

Das Genie

Wieder ein üppig-ausschweifendes Romanporträt über das Erwachsenwerden eines Wunderkinds? Dem ersten Anschein nach ja, aber schnell wird klar, dass der Kulturwissenschaftler Klaus Cäsar Zehrer mit seinem gewichtigen Werk "Das Genie" viel mehr als den mehrfach verschlungenen Lebensweg des US-Ausnahmegelehrten William Sidis (1898-1944) nachzeichnet. Dieser Roman strapaziert schonungslos das volle Repertoire des menschlichen Scheiterns anhand von unerfüllten Selbst- und Fremderwartungen.

Korrekterweise müsste dieses 650-Seiten-Buch "Die zwei Genies" betitelt sein, denn das erste Viertel widmet sich Boris Sidis, Williams Vater. Als mittelloser Jugendlicher nur knapp den zaristischen Repressionen in der Ukraine entkommen, wandert er 1886 in die USA ein und erwirbt nach dem besten Aufnahmetest in der Geschichte Harvards rasch vier akademische Titel. Als Krönung dieser Erfolgsstory gilt jedoch die intellektuelle Entwicklung seines Sohnes William, der nach der neu entwickelten väterlichen Erziehungsmethode kometenhaft zum großen Star aufsteigt, indem er unter Brechung sämtlicher Rekorde mit acht Jahren die High-School abschließt und mit elf Jahren bereits in Harvard unterrichtet. Doch bald kommt Sand ins Raketengetriebe. Ohne etablierte Begabtenförderung überfordert William nacheinander Bildungssystem, Öffentlichkeit und letztlich auch die eigenen Eltern, mit denen er vollständig bricht, da er insbesondere dem alles zersetzenden Ehrgeiz seiner Mutter nicht standhält. Die Blendung durch den Medienrummel und das Fehlen jeglicher gleichaltriger Freunde beschleunigen Arroganz und Soziophobie des Wunderknaben. William kokettiert kurz mit kommunistischen Gedankengut, entkommt einer Haftstrafe durch vorgetäuschte Unzurechnungsfähigkeit und nimmt in weiterer Folge aus Karriereverweigerungsgründen zur Tarnung nur noch Hilfsarbeiterjobs an. An einem Welterlösungswahn leidend, muss er sich nach einem mehrjährigen, von ihm angezettelten Rufschädigungsprozess endgültig auf allen Linien als gescheitert geschlagen geben.

Der Autor hält den Leser nicht lange mit Wunderkind-Anekdoten und -Rekorden auf, sondern räumt der selbstgewählten Isolation und den mehrfachen Zusammenbrüchen des Protagonisten breiten Raum ein. Wie kann es sein, dass ein derart außergewöhnlicher Geist sein eigenes Leben so überhaupt nicht in den Griff bekommt? Muss ein Ausnahmekönner zwangsläufig zum Eigenbrötler, zum Ausgestoßenen, zum Neurotiker werden, der bestenfalls noch mit einem Verhalten irgendwo zwischen Don Quijote und Michael Kohlhaas auf sich aufmerksam machen kann? Diese Fragen werden zwar nicht beantwortet, aber so geschickt-vorurteilsfrei und distanziert-wertfrei gestellt, dass der Leser wiederholt aus Phasen der Empathie, des Unverständnisses aber auch der Abneigung gegenüber dem Protagonisten irritiert wachgerüttelt wird.

Empfehlenswert ist dieses Buch für jene Leserschaft, die nicht nur eine Annäherung an den historischen William Sidis erwartet, sondern auch bereit ist, sich auf die multiplen Gegenwartsbezüge einzulassen: Pazifismus vs. Gewaltnotwendigkeit, Weltverbesserungsengagement vs. Rückzug ins Private, Karriereverweigerung vs. Selbstverleugnung, Freiheit vs. Pflichterfüllung, Normalität vs. Perfektion, Leistung vs. Erfolg. Hervorhebung verdient die ausführliche dramaturgische Aufbereitung des end- und aussichtslosen Rechtsstreits gegen ein übermächtiges Medienunternehmen - aktueller und zugleich zeitloser geht's kaum mehr.

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