Ann H. Neudek über Gewalt in der Kindheit
Beitrag von Katrin Hof | 12. Mai 2016
Weltweit erleben Kinder Gewalt in der Familie in unterschiedlichen sozialen Schichten. Gewalt in der Kindheit hat langfristige Auswirkungen auf den Betroffenen. Die physischen, psychischen und gesundheitlichen Folgen von Gewalt beeinträchtigen das Leben dauerhaft.
In ihrem ersten Buch „Kinderseelenallein“ verarbeitet die Autorin Ann Helena Neudek ihre seelischen Wunden und zeigt auf, dass es für eine Auseinandersetzung mit einem Trauma der Kindheit nie zu spät ist.
Janetts Meinung
Liebe Frau Neudek, in Ihrem kürzlich erschienenen Buch „Kinderseelenallein“ erzählen Sie auf sehr persönliche und poetische Art und Weise, wie Sie die Gewalterfahrungen in Ihrer Kindheit geprägt haben. Was waren Ihre Beweggründe dieses Buch zu schreiben?
Ann Helena Neudek
Ich hatte im Rahmen meiner Therapie angefangen, die Vergangenheit und Gegenwart in meinem Kopf zu ordnen und dann zu Papier gebracht. Als ich feststellte, dass in verschiedenen Gesprächen mit Eltern und Betroffenen meine Art, offen von meinen eigenen Gefühlen und Erfahrungen zu erzählen, hilfreich ist, habe ich mich entschlossen, diese als Buch zu veröffentlichen.
Janetts Meinung
An wen richtet sich Ihr Buch?
Ann Helena Neudek
An junge Eltern, an Eltern erwachsener Kinder und natürlich an Betroffene, die leider viel zahlreicher sind, als man es glauben mag. Und an jeden, der sich für das Thema „Kindesmisshandlung und Folgen“ sensibilisieren möchten.
Janetts Meinung
Ihr Buch enthält sehr viele poetische Passagen, die berühren und zum Nachdenken anregen. Wie sind diese entstanden?
Ann Helena Neudek
Die Gedichte waren eigentlich zuerst da, sie konzentrieren all meine Gedanken auf den Punkt. Ich denke viele Themen in Gedichten und dann schreibe ich sie, bestenfalls, auf.
Janetts Meinung
Sie arbeiten als Coach für Kinder, Jugendliche und Familien und beschäftigen sich beruflich mit Themenbereichen wie beispielsweise Gewalt und Demütigungen, die Sie an Ihre Kindheit erinnern. Wie schaffen Sie es, sich persönlich abzugrenzen?
Ann Helena Neudek
Ich arbeite überwiegend als Autorin und biete eher nebenher noch die Begleitung an. Als Vollzeitjob würde ich es vermutlich nicht alles tragen können, was mir bei diesen Gesprächen begegnet. Beim diesen Terminen sehe ich meine Hauptaufgabe darin, dem Menschen, der mir gegenübersitzt, das Gefühl zu vermitteln, mit der eigenen Geschichte nicht so allein zu sein, wie er sich fühlt. Und durch mein Beispiel Zugang zu den eigenen Gefühlen zu bekommen. Es ist ein bisschen, wie das Buch „in live“: Ich erzähle, stelle Fragen und darüber hinaus höre ich zu.
Janetts Meinung
Sie haben immer erfolgreich das Bild einer perfekten Familie aufrechterhalten, indem Sie die Gewalterfahrungen in einen Mantel des Schweigens hüllten und das äußere Ansehen Ihrer Eltern schützten. Was würden Sie Kindern und Jugendlichen raten, die in einem ähnlichen gewalttätigen Umfeld aufwachsen, wie Sie es erlebt haben?
Ann Helena Neudek
Den „Vorhang“ zur Seite zu reißen und breit öffentlich andere am eigenen Schicksal teilhaben zu lassen, wäre für Kinder und Jugendliche meines Erachtens nicht hilfreich, denn es wäre eine zu große Last, die sie zusätzlich für die ganze Familie mittragen müssten. Sie würden sich noch schuldiger fühlen, als ohnehin schon. Ich würde raten, sich mindestens einen (bestenfalls erwachsenen) Vertrauten zu suchen, sich zu offenbaren und sich helfen zu lassen: Einmal, als Gegenpol zu den Aussagen zu Hause („Du bist gut, so wie du bist.“ und „Es ist nicht Deine Schuld), dann als passive Hilfe (Das eigene Rückgrat stärken, um „Nein“ zu sagen, um den Mut zu haben, sich zu wehren und aus der Opferrolle herauszukommen und einen Zufluchtsort zu bieten) oder natürlich gegebenenfalls auch als aktive Hilfe (Gespräche mit den Eltern/ Tätern, Einschalten von Hilfsorganisationen oder Behörden).
Janetts Meinung
Familiäre Gewalt ist keine „Familienangelegenheit“, sondern eine öffentliche Angelegenheit. Wie stehen Sie zu dieser Aussage?
Ann Helena Neudek
Ich teile das zu 100%. Die Auswirkungen familiärer Gewalt auf der Welt sind verheerend. Nicht jedes Opfer wird zum Täter, aber jeder Täter war selbst einmal ein Opfer, das seine Kindheit verdrängt oder nicht verarbeitet hat. Und nur wer die eigenen Schmerzen vergessen hat, fügt anderen welche zu.
Laut der Autorin Alice Miller war z. B. jeder Diktator, Mörder, Extremist zunächst ein einsames, misshandeltes und/oder gedemütigtes Kind. Meine eigenen Recherchen untermauern dies.
Das, was ich erlebt habe, ist nicht außergewöhnlich, es passiert jeden Tag tausendfach und überall. Um zu überleben, wird nur die gute Erfahrung aufbewahrt oder alles entsprechend umgedeutet. Und so wird es von Generation zu Generation stillschweigend weitergegeben. Ich habe erlebt, dass Erinnern, Reden und Verstehen vieles verändern kann, und deshalb erzähle ich davon."
Janetts Meinung
Wie schätzen Sie den gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt in der Familie ein? Wie kann sich die Gesellschaft einbringen, damit Kindern und Jugendlichen geholfen werden kann?
Ann Helena Neudek
Der Umgang mit dem Tod, der ja auch jeden von uns erschreckt und betrifft, ist in unserer Gesellschaft offener, als der Umgang mit dem Thema elterlicher Gewalt. Diese muss des eigenen Überlebens willen „totgeschwiegen“ werden.
Ich habe in meinem Umfeld sehr viele reflektierte Menschen, die den Mut hatten, sich auseinanderzusetzen und sich bewusst der eigenen Geschichte zu stellen. Sie fühlen sich freier und kommen in ein selbstbestimmtes Handeln: Tue das, wovor du Angst hast, und die Angst stirbt einen sicheren Tod.
Leider sind viele Religionen, die ja noch viele Teile und Einstellungen unserer Gesellschaft prägen, der Ansicht, dass Kindern Gewalt angetan werden darf oder sogar muss. Sätze mit „man“ sind ebenfalls weit verbreitet. „Man tut das, man muss die Eltern ehren“ und so weiter.
Bei vielen Menschen ist dies Korsett sehr wirkungsvoll und trägt über das ganze Leben.
Jeder LehrerIn, PriesterIn, PolitikerIn, Verwandte, Freund usw. kann hinsehen, helfen, Stellung nehmen. Aber das wichtigste ist, dass jeder sich von irgendjemandem, bestenfalls von den eigenen Eltern, bedingungslos geliebt, angenommen und so akzeptiert fühlt, wie er ist. Damit wird der Gewalt gegenüber der nächsten Generation die Grundlage entzogen.
Janetts Meinung
Wie blicken Sie heute, nachdem Sie dieses Buch veröffentlicht haben, auf die Narben Ihrer Kindheit zurück?
Ann Helena Neudek
Ich bin dankbar, dass ich mit diesem Buch einen Beitrag dazu leisten kann, mag er auch nur ganz klein sein, dass sich in unserer Gesellschaft etwas verändert. Denn ich glaube, es helfen keine Aufklärung per Ratgeber und keine Vorschriften so sehr, wie die Konfrontation mit dem eigenen vergessenen Schmerz. Viele Eltern haben mir gespiegelt, dass sich nach der Lektüre ihr Umgang mit ihrem Kind verändert hat, weil sie kurz innehalten, in sich reinspüren, durchatmen. Denn dann können sie als Erwachsene handeln und dem Kind die Rolle des bedürftigen Kindes überlassen. Das zu erreichen ist ein großes Geschenk für mich.
Janetts Meinung
Liebe Frau Neudek! Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für ein Interview genommen und uns einen sehr persönlichen Einblick in Ihre Vergangenheit gegeben haben. Es bedarf sehr viel Mut und Kraft diese Erlebnisse und Erinnerungen in Worte zu fassen und loszulassen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit Ihrem Buch und dass Sie mit dem Schritt, das Thema „Gewalt in der Familie“ in der Öffentlichkeit anzusprechen, viele Menschen erreichen und mit Ihrer Geschichte etwas Positives bewirken können.
Ann Helena Neudek
Herzlichen Dank!