Im Gespräch mit Carmen Kerger-Ladleif über den Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch
Beitrag von Katrin Hof | 01. Januar 2017
Eltern nehmen eine wichtige Rolle ein, wenn es um den Schutz ihrer Kinder vor sexuellem Missbrauch geht. Durch umfassendes Wissen über Ursachen und Folgen können sie nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Prävention leisten, sondern auch bei einem Verdacht die Signale ihrer Kinder besser deuten und ihnen einfühlsam zur Seite stehen. In ihrem Buch „Kinder beschützen! Sexueller Missbrauch – Eine Orientierung für Mütter und Väter“ gibt die Autorin Carmen Kerger-Ladleif einen praxisnahen, vielschichtigen Einblick in diese schwierige und tabuisierte Thematik.
Janetts Meinung:
Liebe Frau Kerger-Ladleif, Sie haben langjährige Erfahrung in der Arbeit mit Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben und beraten besorgte Eltern. In Ihrem Buch „Kinder beschützen! Sexueller Missbrauch – Eine Orientierung für Mütter und Väter“ beschäftigen Sie sich umfassend mit dem Thema Kindesmissbrauch. Wie wichtig ist es über eine tabuisierte Thematik wie diese zu sprechen?
Carmen Kerger-Ladleif:
Es ist außerordentlich wichtig, die noch immer existierende Sprachlosigkeit zum Thema Kindesmissbrauch zu überwinden. Das Schweigen schützt Täter_innen und lässt die Betroffenen allein. Jugendliche haben mir vor ein paar Jahren auf die Frage „Was kann helfen, sexuellen Missbrauch zu verhindern?“ geantwortet: „Wenn alle Präventionsprojekte machen wie wir. Aber vor allem, wenn es normal wird über sexuellen Missbrauch zu sprechen und Opfer erfahren, dass sie nicht allein sind und das Reden hilft.“
Janetts Meinung:
In der Literatur werden oftmals unterschiedliche Begrifflichkeiten für diese spezielle Form der Gewalt an Kindern verwendet. Wie würden Sie als Expertin erklären, wo sexueller Missbrauch beginnt?
Carmen Kerger-Ladleif:
Der Begriff „sexueller Missbrauch“ ist derjenige, der von den Betroffenen am häufigsten verwendet wird. Auch im Strafrecht ist „sexueller Missbrauch“ der Begriff, der deutlich macht, dass hier Straftaten gegen Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene begangen werden.
Der Begriff „Sexualisierte Gewalt“ beschreibt jedoch am deutlichsten, dass hier Gewalt in einer sexualisierten Form ausgeübt wird. Dieser Begriff gilt auch als Obergriff für alle Formen sexualisierter Gewalt (Sexueller Missbrauch, Exhibitionismus, Vergewaltigung, Kinderpornografie, u. a.).
Sexueller Missbrauch beginnt, wo Vertrauen, Nähe, Unwissenheit oder Abhängigkeiten ausgenutzt werden, um eigene Bedürfnisse auf Kosten einer anderen Person zu befriedigen. Sexueller Missbrauch ist jede sexuelle Handlung an, mit oder vor Kindern, Jugendlichen oder Schutzbefohlenen.
Janetts Meinung:
Viele Eltern haben Ängste und machen sich Sorgen um ihre Kinder. Wie kann der Balanceakt zwischen dem Schutz des Kindes und dem Zulassen von Freiräumen gelingen, ohne dabei Ängste beim Kind zu verursachen oder es einzuschränken?
Carmen Kerger-Ladleif:
Dieser Balanceakt zwischen Loslassen und Festhalten gehört zum Elternsein. Eltern haben die Möglichkeit, ihren Kindern „Handwerkszeug“ mitzugeben, das ihnen hilft, Situationen zu erkennen, zu bewerten und zu handeln.
Je mehr Sicherheit und Vertrauen Kinder erfahren, desto mehr Selbstvertrauen können sie entwickeln und desto größer ist ihre Fähigkeit, auch in schwierigen Lebenssituationen Lösungen zu finden.
Jedes Kind braucht dieses Vertrauen und die Sicherheit, dass Erwachsene ihm zuhören und helfen. Mädchen und Jungen, die zuversichtlich die Welt erkunden, brauchen die Sicherheit, bei ihren Eltern Rat, Hilfe und Schutz zu finden, wenn sie etwas verunsichert oder überfordert. Diese Sicherheit entsteht durch Verlässlichkeit, Achtsamkeit und wertschätzendes Interesse.
Janetts Meinung:
Welche Gefahrensituationen gibt es und wie können Eltern ihre Kinder vor diesen schützen?
Carmen Kerger-Ladleif:
Eltern können ihren Kindern Orientierung geben. Mit Blick auf Fremde sind das die Grundregeln wie nicht mitgehen, nicht in Autos steigen, keine Süßigkeiten annehmen. Eltern können klare Regeln absprechen, z. B. dass ihre Kinder immer Bescheid sagen müssen, wenn sie sich verabreden oder irgendwo hingehen. Genauso wichtig ist es, Mädchen und Jungen altersgerecht über sexuellen Missbrauch aufgeklärt werden.
Eine kindgerechte Definition könnte so lauten:
„Es gibt Menschen, die das Vertrauen von Mädchen und Jungen ausnutzen. Sie wissen, dass Geborgenheit, Kuscheln und Nähe schöne Gefühle sind. Sie wissen auch, dass es Kindern Spaß macht, Neues zu entdecken und auszuprobieren.
Wir können von außen nicht erkennen, ob eine Person wirklich nett ist oder nur so tut, aber wir können auf unseren Bauch hören. Manche Menschen verändern sich. Sie können zunächst wirklich nett wirken und schaffen es so, dass alle ihnen vertrauen. Doch wenn sie das Vertrauen haben, verändern sie sich und fassen Mädchen z. B. an die Brust, die Scheide oder den Po oder Jungen an den Penis. Oder sie wollen selbst von Kindern angefasst oder angeschaut werden. Einige zeigen ekelige Bilder oder wollen Fotos und Filme von nackten Kindern machen. Das ist verboten, denn das alles ist sexueller Missbrauch. Die Mädchen und Jungen spüren dann, dass etwas nicht stimmt, haben ein NEIN-Gefühl. Sie sind verwirrt und verunsichert und können sich nicht erklären, warum jemand, den sie mögen so etwas mit ihnen macht. Viele von ihnen fühlen sich schuldig und glauben, dass sie etwas falsch gemacht haben. Aus Angst, ihnen könnte nicht geglaubt werden, trauen sich viele Mädchen und Jungen nicht, mit jemandem darüber zu reden. Sie schweigen aber auch aus Scham und weil ihnen gesagt wurde, dass es ein Geheimnis ist.
Das stimmt aber nicht: Niemand hat das Recht, ein Kind sexuell zu missbrauchen – das ist verboten. Niemals hat ein Kind Schuld, wenn so etwas passiert! Die Täter wollen, dass Kinder niemandem etwas davon erzählen, damit sie immer weitermachen können.“
Die Botschaft an die Kinder muss sein:
„Erzähl mir davon, wenn du Kummer hast: „Ich bin für dich da!“
Janetts Meinung:
Soll eine Aufklärung über sexuellen Missbrauch im Rahmen der Sexualerziehung erfolgen? Worauf sollten Eltern dabei besonders Acht geben?
Carmen Kerger-Ladleif:
Kinder sind von Geburt an sexuelle Wesen. Sie mögen es zu kuscheln, zu schmusen, berührt zu werden, und auch den eigenen Körper zu berühren. Eine Trennung zwischen Zärtlichkeit, Sinnlichkeit und Sexualität gibt es bei Kindern nicht. Sexualerziehung gibt Mädchen und Jungen eine Sprache für ihren Körper, ihre Gefühle und Bedürfnisse. Der Fokus hier liegt auf dem positiven, gesunden und ganzheitlichen Erleben und sollte immer vor der Aufklärung über sexuellen Missbrauch liegen.
Eltern sollten darauf achten, dass Mädchen und Jungen achtsam und kultursensibel aufgeklärt und gestärkt werden.
Janetts Meinung:
Was kann man sich unter Prävention von sexuellem Missbrauch vorstellen?
Carmen Kerger-Ladleif:
Prävention von sexuellem Missbrauch ist eine Haltung und muss integraler Bestandteil der gesamten Erziehung sein.
Sie stärkt das Selbstbewusstsein von Mädchen und Jungen. Sie ist eine Haltung des Schutzes und der Achtsamkeit.
Dieser Schutz bedeutet, die Autonomie und Selbstbestimmtheit von Mädchen und Jungen zu respektieren und zu fördern. Ihnen eine Sprache für ihre Gefühle und Bedürfnisse zu geben und sie bei der Regulation von Gefühlen zu unterstützen.
Prävention im Sinne von Schützen bedeutet auch, dass Menschen bereit sind, zu erkennen und verantwortungsbewusst zu handeln.
Mit Blick auf Mädchen und Jungen heißt Prävention stärken, ermutigen und aufklären.
Prävention richtet sich aber immer auch an die für den Schutz von Kindern verantwortlichen Erwachsenen – Eltern, professionelle Fachkräfte, Gesellschaft. Hier geht es um die Sensibilisierung für die Folgen sexuellen Missbrauchs und die Strategien von Täter_innen, um die Gewalt zu beenden und den Betroffenen zu helfen.
Mit Blick auf Institutionen wie Kitas und Schulen bedeutet Prävention die Entwicklung institutioneller Schutzkonzepte mit Handlungsleitlinien für ein professionelles Nähe-Distanz-Verhältnis und zum Umgang mit Übergriffen und anderen Formen der Kindeswohlgefährdung. Schutzkonzepte haben zudem das Ziel, eine grundlegende Haltung und Projekte in den Einrichtungen zu entwickeln, die Grenzbewusstsein und Respekt, Kinderrechte, Sexualpädagogik und Prävention zu einem festen Bestandteil des Alltags machen.
Zur Prävention von sexuellem Missbrauch gehört auch die nachhaltige Aufarbeitung von bereits geschehenen Fällen sexuellen Missbrauchs und die Tätertherapie. Beides hat das Ziel, eine Wiederholung des Missbrauchs zu vermeiden.
Janetts Meinung:
Ihr Buch „Kinder beschützen“ umfasst auch ein Kapitel, das sich mit sexualisierter Gewalt gegen Menschen mit Behinderung beschäftigt. Warum ist Prävention bei dieser Zielgruppe so wichtig?
Carmen Kerger-Ladleif:
Menschen mit Behinderung sind oft ein Leben lang auf Hilfen im Alltag angewiesen und emotional von ihren Bezugspersonen abhängig. Durch diese Abhängigkeit fällt es ihnen schwer, sich zu schützen und sich Hilfe zu holen“.
Kinder und Jugendliche mit Behinderung sind in besonderem Maße von sexueller Gewalt betroffen. Aktuelle Ergebnisse aus Deutschland belegen, dass jede zweite bis vierte behinderte Frau sexuelle Übergriffe in Kindheit und Jugend durch Erwachsene oder andere Kinder und Jugendliche erlebt hat (Schröttle u. a. 2012). Betrachtet man ausschließlich sexuelle Gewalt durch Erwachsene, waren behinderte Frauen in ihrer Kindheit etwa zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt (s. o.).
Menschen mit Behinderung erfahren täglich verschiedenste Formen der Fremdbestimmung. Berührungen im Intimbereich werden z. B. aufgrund von Pflegesituationen als Teil des Lebensalltags erfahren. Viele Menschen mit Behinderung sind ihr Leben lang auf Assistenz angewiesen. Diese Assistenz kann grenzachtend sein oder auch nicht.
Menschen mit einer Behinderung haben oft Schwierigkeiten, sich ihrem Umfeld umfassend mitzuteilen und erlebte Gewalt zu artikulieren. Für sie besteht ein erhöhtes Risiko, dass die Folgen sexualisierte Gewalt als Ausdruck von Behinderung und nicht als Folge von Gewalt wahrgenommen werden.
Distanzlosigkeit und eine Erziehung zur Anpassung wird bei Menschen mit Behinderung häufig gefördert. Das Duzen bis ins Erwachsenenalter, ungefragte Berührungen und mangelnde Förderung zur Autonomie im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten sind begünstigende Faktoren, schneller Opfer sexueller Gewalt zu werden.
Generell laufen Betroffene von sexueller Gewalt Gefahr, dass ihnen nicht geglaubt wird (7 Begegnungen). Besonders Menschen mit einer Beeinträchtigung traut man eine genaue Einschätzung eines Übergriffes selten zu.
Mädchen und Jungen brauchen eine Sprache für sexuelle Handlungen, für Körperteile und Funktionen. Sie müssen wissen, dass sie schützens- und liebenswert sind. Menschen mit einer Behinderung erhalten noch viel zu oft keine Sexualerziehung.
Janetts Meinung:
Für die betroffenen Kinder ist es oft sehr schwierig über Erfahrungen des sexuellen Missbrauchs zu reden, vor allem dann, wenn dieser im familiären Umfeld geschieht. Auf welche Anzeichen oder Signale sollen Erziehungsberechtigte achten?
Carmen Kerger-Ladleif:
Es gibt keinen eindeutigen Symptomkatalog, durch den sexualisierte Gewalt zweifelsfrei diagnostiziert werden könnte. Kinder entwickeln je nach Alter, Entwicklungsstand und Persönlichkeit eigene Überlebensstrategien. Diese Überlebensstrategien bestimmen oftmals das Leben der Betroffenen noch lange nach Beendigung der sexuellen Gewalt. Für sie sind Verhaltensmuster, die andere als möglicherweise als Auffälligkeiten wahrnehmen, ihr Selbstschutz.
Kinder können unterschiedliche Symptome zeigen wie Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Sprachstörungen, Essstörungen, Hauterkrankungen, Bauchschmerzen, Blasenentzündungen, Bettnässen, distanzloses wie distanziertes Verhalten, Einkoten, Zwänge, Ängste, geringes Selbstbewusstsein, Schuld- und Schamgefühle, Aggressionen, selbstverletzendes Verhalten u. v. m.. Die Verhaltensweisen und Auffälligkeiten variieren je nach Alter, Entwicklungsstand und Persönlichkeit des betroffenen Kindes.
Wichtig ist, dass Eltern bei allen Veränderungen ihres Kindes das Gespräch suchen und ihrem Kind signalisieren, dass sie sich Sorgen machen und das Gefühl haben, ihrem geht es nicht gut. Für Mädchen und Jungen ist es außerordentlich wichtig zu erfahren, dass ihre Not gesehen wird und sie nicht allein sind. Viele Kinder schweigen zu Beginn, weil die Täter in Konsequenzen gedroht haben, wenn sie etwas erzählen. Sie schweigen aber auch aus Scham und der Angst, dass ihnen nicht geglaubt werden könnte. Kinder wollen ihren Eltern keine Sorgen machen und so kann es gut sein, eine vertraute Person zu bitten, z. B. die Erzieher_in zu bitten, die Sorge mit dem Kind anzusprechen.
Janetts Meinung:
Wie unterstützen Sie Eltern, die selbst Opfer von sexuellem Missbrauch in ihrer Kindheit geworden sind? Ist die Theorie, dass Opfer zu Tätern werden ein Klischee? Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Gewalterfahrungen von Eltern und der Weitergabe von Missbrauchserfahrungen an Kinder?
Carmen Kerger-Ladleif:
Es ist ein Vorurteil, dass Opfer zu Tätern werden. Viele Betroffene, Frauen und Männer leiden ihr Leben lang unter den Folgen erlebter Gewalt. Für Betroffene, die als Kinder/Jugendliche keine Hilfe bekommen haben, gibt es ein erhöhtes Risiko, auch im Erwachsenenalter erneut Opfer zu werden oder in gewalttätigen Beziehungen zu leben. Das ist ein Risiko aber keine Zwangsläufigkeit. Es kann z. B. für Mütter schwerer sein, ihre eigenen Kindern zu schützen, da die selbst erlebte Gewalt ihr Einfühlungsvermögen reduziert haben kann und sie daher die Gefahr und auch die Signale ihrer Kinder nicht wahrnehmen.
Ich möchte alle betroffenen Eltern ermutigen mit ihren Gefühlen, Fragen und Ängsten nicht allein zu bleiben. Holen Sie sich Hilfe!
Janetts Meinung:
Welche langfristigen, schwerwiegenden Folgen hat sexueller Missbrauch für die Opfer?
Carmen Kerger-Ladleif:
Sexueller Missbrauch ist eine traumatische Erfahrung und kann zu schweren Traumafolgestörungen führen. Für die Betroffenen bedeutet das den Verlust ihrer Kindheit. Das Erleben von Glück, Sicherheit, erfüllten Beziehungen und eines frei - bestimmten Lebens ist für sie deutlich erschwert oder nicht möglich.
Es braucht Menschen, die bereit sind hinzuschauen, zu glauben und Verantwortung für den Schutz zu übernehmen.
Janetts Meinung:
Zum Abschluss beschäftigt uns eine Frage über den „Tatort: Neue Medien“. Viele Täter nehmen über das Internet Kontakt mit Jungen und Mädchen auf. Wie können Eltern ihr Kind vor dieser Gefahr des Internets schützen?
Carmen Kerger-Ladleif:
Im Bereich der Digitalen Gewalt ist es eine Vielzahl von sehr guten Internetseiten, auf denen Eltern Hintergrundinformationen und sehr konkrete Empfehlungen zum Schutz von Mädchen und Jungen finden.
Exemplarisch möchte ich auf www.klicksafe.de, www.innocenceindanger.de, www.internet-abc.de und www.juuuport.de hinweisen.
Janetts Meinung:
Vielen Dank Frau Kerger-Ladleif, dass Sie sich für dieses Gespräch Zeit genommen haben. Wir hoffen, dass Sie mit Ihrem Buch „Kinder beschützen!“ viele Eltern erreichen und dazu ermutigen können, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen.