Freude am Sehen


Kontemplative Fotografie
von Hiltrud Enders
Rezension von Michael Seirer | 14. Januar 2019

Freude am Sehen

Fotografieren liegt im Trend - nicht zuletzt auch wegen der immer besser werdenden Smartphonekameras. Da ist es nur logisch, dass damit auch eine verstärkte Nachfrage an Büchern zum Thema Fotografie einhergeht. Neben technisch gehaltenen Werken zu einzelnen Kameramodellen, speziellen Spielarten der Fotografie oder Büchern zum Thema Bildbearbeitung finden sich jedoch kaum Druckwerke, die sich um den Kern der Fotografie kümmern und warum Menschen eigentlich gerne fotografieren. “Freude am Sehen” ist so ein Buch und es tritt an, die Sehgewohnheiten des Lesers zu verändern, um damit wieder mehr Spaß am Fotografieren zu finden.

Die Autorin Hiltrud Enders ist Architektin und gibt ihr Wissen als Miksang-Trainerin seit längerem in Workshops weiter. Miksang ist eine vom Institute for Contemplative Photography entwickelte Spielart der Fotografie. Mehr darüber erfahren kann man unter www.miksang.com bzw www.miksang-fotografie.de. Ziel ist es, seine eigene visuelle Sprache zu finden und dadurch Spaß an der Fotografie zu haben. Damit gemeint ist das Entdecken von Farben, Formen und Muster, die einen ansprechen. Die entstandenen Fotos sind dann sehr persönliche und sie werden notwendigerweise nicht allen Menschen gefallen. Insbesondere werden es wohl keine Fotografien sein, die sich dem üblichen Diktat von vielge-like-ten Instagram- oder Facebook-Postings beugen: übersättigt, mit Filtern entfremdet und mit zu viel Kontrast versehen.

Der Abschnitt „Alltagspoesie“ führt in das Thema der kontemplativen Fotografie ein, „Hindernisse und Türöffner“ zeigt Wege, um diese zu erreichen und „Unterwegs“ beinhaltet einige Episoden aus dem Leben der Autorin, in denen sie Erfahrungen in kontemplativer Fotografie beispielhaft erzählt. Im Buch wechseln sich Textpassagen mit vielen Fotografien der Autorin und ganzseitigen Zitaten ab. Ein kurzes Literaturverzeichnis listet insbesondere die Bücher des Begründers der kontemplativen Fotografie Michael Wood auf. Einer der zitierten und empfohlenen Fotografen, Saul Leiter, summiert ganz gut, worum es geht: “In order to build a career and to be successful, one has to be determined. One has to be ambitious. I much prefer to drink coffee, listen to music and paint when I feel like it.” Die sich dabei ergebenden Fotos haben eine neue und andere Qualität als jene, die man gemacht hat. Es sind keine besonders raffinierten Aufnahmen und sie wurden auch nicht stark bearbeitet. Sie basieren nicht auf besonderem Talent oder gelernten Kompositionsregeln, einem vorher festgelegten Thema oder gehören zu einer Serie. Und es ist völlig egal, ob jemand anderer schon ein ähnliches Foto aufgenommen hat. Vielmehr geht es um eine wesentlich bewusstere und ruhigere Herangehensweise. Denn hohes Tempo verhindert Wahrnehmung.

Ebenfalls erfrischend: Es ist keine teure Ausrüstung notwendig. Im Gegenteil: Klein und leicht soll sie sein, damit sie immer mitgenommen wird. Denn man kann nie sagen, wann sich eine frische Wahrnehmung ergibt (wobei sich der im Buch verwendete Begriff “frisch” wohl aus der englischen Übersetzung ergab und eine unverfälschte, direkte Wahrnehmung meint). So mancher Leser könnte sich nun denken: Alles schön und gut, aber im stressigen Alltag finde ich keine Zeit! Die gute Nachricht: Unmittelbares Sehen benötigt keine Zeit, funktioniert in Sekunden und es braucht auch keinen expliziten Foto-Spaziergang dafür. Kontemplative Fotografie ist in erster Linie das Erleben des Sehens - zuerst ohne, dann mit Kamera. Die inneren Monologe und Empfindungen der Autorin werden in Geschichtenform erzählt und ermöglichen so dem Leser das Nachvollziehen bzw. das Erkennen, wann sie auf dem richtigen Weg sind. 

“Freude am Sehen” ist schön gestaltet und zeichnet sich durch ein unübliches Querformat aus. Dieses unterstützt die stillen, unaufgeregten, aber deshalb nicht faden, Fotografien. Der gewählte Titel ist mehr als treffend, denn genau darum geht es: Nicht noch mehr übersättigte, mit Filtern malträtierte Bilder zu erzeugen und dann beim  Vergleichen der eigenen Fotografien mit den geposteten auf Instagram immer unglücklicher zu werden. Die Fotos der Autorin illustrieren, dass man nicht unbedingt in die Karibik fliegen oder auf die höchsten Türme der Stadt klettern muss um „gute“ Fotos zu erhalten - es finden sich in der näheren Umgebung genügend Inspirationen, man muß nur hinschauen. Besonders eindrucksvoll: Das erste Foto im Buch zeigt die Struktur von Klopapier gestreift von reflektierten Sonnenstrahlen - sehr schön! Einzig mehr konkrete Anweisungen und Übungen wünscht man sich als Leser, um zu ebendieser Wahrnehmung zu kommen. Die enthaltenen Ansätze dazu verlieren sich im Text und sind zu wenig einleuchtend und konkret um daraus Handlungsempfehlungen ableiten zu können.

“Freude am Sehen” ist ein Buch über kontemplative Fotografie. Sie unterscheidet sich in ihren Grundzügen komplett von den sonst gängigen Motiven, warum jemand eine Kamera in die Hand nimmt und fotografiert. Die enthaltenen fotografischen Beispiele illustrieren schön, wohin eine Entwicklung des eigenen Sehens zu kraftvollen Fotografien führen kann und gibt Anregungen, wie man dorthin kommt. Und so ganz nebenbei hat man auch mehr Spaß am Fotografieren und an den Ergebnissen.

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