Topografie der Erinnerung

von Martin Pollack
Rezension von Elisabeth Binder | 19. April 2016

Topografie der Erinnerung

Seit Martin Pollack den Journalistenberuf 1998 an den Nagel gehängt hat, um weiterhin als – wie es bezeichnenderweise heißt – "freier Schriftsteller", sein Geld zu verdienen, waren eigene und kollektive Erinnerungen das Rohmaterial für seine dokumentarischen Romane, Reportagen und Essays. Erinnerungen und deren Spiegelbild, nämlich das Vergessen, bilden das nicht immer zuverlässige Wissen über eigene Geschichte und Weltgeschichte in den Köpfen der Menschen. 

Unter den insgesamt 18 in "Topographie der Erinnerung" versammelten Texte befinden sich zwei Erstveröffentlichungen, die restlichen stammen aus dem Zeitraum von 2008 bis 2015. Die durchwegs kurzen Texte wurden in drei weit gefasste Themenblöcke einsortiert. Eine vorgegebene Lesereihenfolge ergibt sich daraus aber nicht zwingend, jeder Text kann für sich gelesen und verstanden werden.

Aus dem ersten Teil "Erinnerungen und Gedenken", sticht eine Rede, nämlich "Erinnerung in einer fragmentierten Gesellschaft" aus dem Jahr 2010, besonders hervor. Sie erhält durch die Fluchtbewegung aus den syrischen Kriegsgebieten ungeahnte Aktualität. Pollack wurde von einem engagierten Lehrer zu einer Lesung eingeladen, um mit den aus einem "bildungsfernen Milieu" stammenden Jugendlichen über die Auswirkungen des Nationalsozialismus und die Verankerung in der Erinnerung von Opfern und Tätern zu diskutieren. Die Veranstaltung lief friedlich und gesittet ab. Irgendwann jedoch bemerkte Pollack, dass sein Publikum, nämlich Kinder und Enkelkinder von Migranten, zu einem guten Teil mit dieser Vergangenheit gar nichts verbindet. An dieser Stelle erkennt Pollack, dass er, der die ostmitteleuropäische Geschichte besser als seine eigene Westentasche kennt, eigentlich nur rudimentär über die türkische, serbische oder libanesische Geschichte Bescheid weiß. An diesem Punkt stellt Pollack eine Frage, deren Beantwortung fünf Jahre und Hunderttausende von Flüchtenden später um einiges mehr an Aktualität und Brisanz gewonnen hat: "Bedeutet Integration, dass diese Menschen ihre historischen, nationalen Erzählungen, die Erinnerungen an Tragödien und Massaker, aber auch an Heldentaten, die einen wichtigen Teil ihrer Identität ausmachen, ablegen müssen wie zerschlissene Kleider, mit denen man sich schämt, unter die Leute zu gehen? Oder dürfen sie von uns erwarten, dass wir zumindest den Versuch machen, den engen, nationalen, rot-weiß-rot gefärbten Erinnerungsraum (...), mit einem Blick auf die Anderen in unserer Mitte erweitern, um uns mit ihrer Vergangenheit, mit ihrer Erinnerung auseinanderzusetzen?" (S. 84f) Eine positive Antwort auf diese Frage zu finden, fiel Pollack schon damals schwer. Heute wird die Frage fast gar nicht mehr gestellt.

Die von Bildern und Fotografien ausgehenden Geschichten im mittleren Teil des Buchs kommen anfangs immer wie brave Schulaufsätze daher. Die Fotografien, die Pollack offensichtlich schon über Jahre hinweg gezielt gesammelt hat, werden in simpler Sprache in ihren sichtbaren Details beschrieben. Anhand dieser "Bildergeschichten" spannt Pollack sein unglaublich breites historisches Wissen über die Geschichte Mittel- und Osteuropas im 20. Jahrhundert auf. Pollack schreibt hier unermüdlich gegen das institutionelle Vergessen und den unreflektierten Umgang mit der Vergangenheit, die oft von professionellen Foto- und Ansichtskartenhändlern an ihre Kunden weitergetragen wird. In dem Essay "Ein polnischer Heckenschütze" beschreibt Pollack ein Foto, das ein Fotohändler unter diesem Titel, der offenbar von einer Notiz auf der Rückseite des Fotos kommentarlos übernommen wurde, anbot. Bei genauerem Hinsehen stellte sich jedoch heraus, dass dem vermeintlichen Heckenschützen ein wesentliches Merkmal fehlt, nämlich die Waffe. Auch sonst sind die Hinweise auf den historischen Kontext sehr spärlich. Daher ist es auch nicht überraschend, dass Pollack dasselbe Bild einige Jahre nach der Veröffentlichung des Essays, wieder in einem Katalog eines Fotohändlers findet, diesmal als "Ermordeter Volksdeutscher". Der einzige Unterschied bestand im Preis.

Der Titel des abschließenden Teils, "Europäische Regionen", ist ein bisschen missverständlich, denn bei Pollack geht es immer um europäische Regionen, beziehungsweise seinen Versuch, das alte und neue Ost(mittel)europa mit einzubeziehen. Polen, das verschwundene Galizien, die heutige Ukraine, sie alle spielen eigentlich in jedem Text des Buchs eine Rolle, nicht nur in diesem Kapitel. Der letzte Essay des Kapitels und des Buchs tanzt allerdings etwas aus der Reihe. In "Polnische Lektionen" erzählt Pollack seine eigene Geschichte, nämlich davon, wie ein junger Mann aus einer österreichischen Provinzhauptstadt in den frühen 60er Jahren eigentlich nur aus einer jugendlichen Trotzreaktion ein Slawistikstudium beginnt und dabei seine Liebe zur polnischen Literatur und Geschichte entdeckt. 

Martin Pollack schreibt in einer einfachen, klaren, eleganten, aber auf keinen Fall simplen Sprache. Er findet immer wieder neue Einstiegspunkte in die gleichen Themen, die ihn mittlerweile seit Jahrzehnten bewegen, ohne dabei langweilig oder belehrend zu werden. Für Pollack-Fans bleibt nur zu hoffen, dass er nach zwei Essaybänden auch wieder zur langen Form zurückfindet. Man darf gespannt sein, welche Geschichte er vor dem Vergessenwerden rettet. Eines vielleicht noch zum Schluss: LeserInnen, die noch nicht mit dem Werk von Martin Pollack vertraut sind, sollten sich aber auf keinen Fall durch das Coverfoto beirren lassen, das Spektrum der Texte ist wesentlich breiter als das Foto suggeriert.

Details

  • Autor*in:
  • Verlag:
  • Genre:
  • Sprache:
    Deutsch
  • Erschienen:
    03/2016
  • Umfang:
    200 Seiten
  • Typ:
    Hardcover
  • ISBN 13:
    9783701716487
  • Preis (D):
    21,90 €

Bewertung

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