Die Leben der Elena Silber

von Alexander Osang
Rezension von Manfred Weiss | 07. November 2019

Die Leben der Elena Silber

Die Geschichte einer Familie ist nie schnell erzählt. Wie ein Stammbaum breitet sie sich aus, hier verschwimmt die persönliche Geschichte der Einzelnen mit ihrer Epoche, dort verflechten sich Leben und Zeit im besten Fall fast wie zu einem Gemälde.

Russland, 1905, ein kleines Mädchen erlebt die Ermordung ihres Vaters mit. Ein politisches Verbrechen, bereits im Vorfeld der Oktoberrevolution, die Jahre später nicht nur Russland von Grund auf verändern sollte. Im Jahr 2017, fast zwanzig Jahre nach ihrem Tod, macht sich ihr Enkel auf die Suche nach seiner und ihrer Geschichte. In “Die Leben der Elena Silber” erzählt Alexander Osang nicht nur die mehr als achtzig Jahre lange Lebensgeschichte dieses kleinen Mädchens, sondern die Geschichte ihrer ganzen Familie, eingewoben in den großen historischen Rahmen von Weltkriegen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Eine Familiengeschichte lauter und leiser Dramen, ein Ankämpfen gegen das Vergessen und irgendwo manchmal auch der Wunsch danach.

Eine Deutsch-Russische Geschichte

“Die Leben der Elena Silber” ist ein großartiger Familienroman, von epischer Breite, großer Tragik und ab und zu auch mit Humor. Es geht in dem Buch aber nicht nur um die Erzählung einer geradlinigen Geschichte. Die Erzählebene wechselt laufend zwischen Gegenwart und verschiedenen Phasen der Vergangenheit. Und auch wenn die eigentliche Geschichte der Elena Silber geradlinig erzählt ist, ist sie raffiniert mit zahlreichen anderen Handlungssträngen der Mitglieder ihrer Familie verwoben.

Erschütternde Szenen verknüpfen sich immer wieder mit einem fast ruhigen Verlauf der Vergangenheit. Der Autor bleibt immer bei seinen Figuren und lässt sie auch in überbordender Fülle nie aus den Augen, gibt allen Konturen. Auch wenn der Titel Elena Silber gehört, hat das Buch viele Hauptpersonen und schafft es immer wieder, trotz des langen zeitlichen Rahmens, einzelne Szenen, Begebenheiten detailgenau und miterlebbar zu beschreiben. Diese Tempowechsel sind fast unmerklich in die Handlung integriert. Ebenfalls eine große Stärke des Romans.

Ankämpfen gegen das Vergessen

Beeindruckend ebenso die Beschreibung des Ankämpfens gegen das Vergessen in Form von Altersdemenz, wobei immer wieder geschickt die Perspektive zwischen der erkrankten Person und den Angehörigen wechselt. Aber irgendwann ist auch immer wieder mal der Moment erreicht, wo das jahrelang Verschwiegene nicht mehr richtig gestellt werden kann.
Der Klappentext verweist auf einen Bezug der Handlung zur Familiengeschichte des Autors. Diese Nähe zu einer verborgenen Wirklichkeit, wie weit sie auch gehen mag, ist beim Lesen spürbar. Die Figuren erscheinen oftmals als mehr, denn als bloße Charaktere in einem Roman. Auch das macht “Die Leben der Elena Silber” zu einem spannend zu lesenden Buch.
Manche Begegnungen in den Wirren der Zeiten scheinen von schon fast dickenshafter Unvermeidbarkeit. Etwa wenn die verschollen geglaubte Jugendliebe plötzlich weit weg von zuhause wieder genau im richtigen Moment in der Handlung auftaucht. Man ahnt schon fast beim Öffnen der Türe, wer dahinterstehen wird. Auch wenn der Autor oder eben das Leben seinen Charakteren dann oft mit erschütternder Konsequenz ein glückliches Ende versagt.

“Die Leben der Elena Silber” ist ein Roman für alle, die an episch breiten, historisch detailreichen, dramatischen ebenso wie erschütternden Familiengeschichten interessiert sind. Am Beispiel des Schicksals einer Familie ebenso wie am Schicksal, der in sie Hineingeborenen, wird mehr ein Jahrhundert europäische Geschichte spannend erzählt und miterlebbar gemacht.

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