Die dunkle Mühle

von Gerd Scherm
Rezension von Stefan Cernohuby | 10. November 2011

Die dunkle Mühle

Jede Familie hat Vergangenheit. Viele sind sich heutzutage jedoch nicht mehr bewusst, wie tief und weit verzweigt sich die Wurzeln derselben in das Erdreich der Geschichte gegraben haben. Gerd Scherm ist der Geschichte einer Familie nachgegangen, die ihm persönlich sehr am Herzen liegt, nämlich der Familie seiner Frau. Denn ein Ansatzpunkt für ein wichtiges Ereignis in seinem Leben hat mit ihr zu tun.

Als Friederike Gollwitzer bei der Auflösung des Haushalts ihres verstorbenen Vaters auf Aufzeichnungen ihres Großvaters stößt, ahnt sie zuerst nicht, wie tief sie sich durch diese in die Vergangenheit ihrer eigenen Familie verstrickt. Mit Hilfe des Freimauers, Soziologen und Schriftstellers Arno Schott kommt sie vielen einzelnen Schicksalen immer näher. Darunter befinden sich streitende Vettern, aus deren Auseinandersetzung eine Auswanderung in ein anderes Tal und schlussendlich sogar Auswanderer nach Amerika entspringen. Während sich ein Teil der Familie einer klerikalen Tätigkeit widmet und dabei im dritten Reich zwischen Deutschnationalismus und Nächstenliebe hin und hergerissen ist, wurde ein anderer Spross der Familie zu einer noch umstritteneren Persönlichkeit. Johannes Stark, Nobelpreisträger für Physik, stieg während der Nazizeit zu einer wichtigen Person auf. Nachdem er mit der Ideologie Hitlers konform ging, erweiterte er diese sogar um Wissenschaftler, die seiner Meinung nach "jüdischen" Ideen anhingen. Doch neben den vielen historischen Recherchen suchen die beiden Ahnenforscher auch die Orte auf, an denen Friederikes Familienangehörigen einst lebten.

Ahnenforschung ist auch über 60 Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs noch ein wenig mit dessen Stigmata behaftet. Damals musste man das Wissen über seine Vorfahren nutzen, um nachzuweisen, dass man keine jüdischen Vorfahren besaß. Ob das allerdings Grund genug ist, um sich nicht mit den eigenen Ahnen zu beschäftigen, darf zumindest bezweifelt werden. Doch auch ohne negative Vorbelastung denkt kaum mehr jemand daran, dass die wenigen weitergegebenen Informationen, die man von seinen Großeltern über deren Eltern und Großeltern gehört hat, auch lebendige Geschichte darstellen. Zu wenig wurde in schriftlicher Form hinterlassen. Doch Gerd Scherm zeigt, dass die Suche nach den eigenen Wurzeln und ihren Verzweigungen alles andere als langweilig sein muss - und man merkt dem Buch die jahrelange Beschäftigung mit der Materie an. Man stößt im Buch auf verschiedene Schicksale. Manche Personen schließt man schnell ins Herz, andere sind einem auf Anhieb unsympathisch. Doch jeder hat seinen Platz im großen Stammbaum und einzigartige Erlebnisse vorzuweisen. Und wenn man wirklich tief gräbt, stößt man auch auf verborgene Geheimnisse, die man zwar verstecken wollte, die aber doch immer wieder zu Tage treten. So zeichnet Gerd Scherm ein lebendiges Bild der Geschichte, aus Sicht einer sich verändernden Gegenwart. Einzig und allein diese ist es, die im Buch etwas weniger authentisch wirkt. Die Gespräche und Situationsbeschreibungen von Friederike und Arno Schott - der ja eigentlich Gerd Scherm ist - lassen teilweise das Gefühl entstehen, sie würden ein wenig zu viel Philosophisches enthalten, auch die Gespräche lesen sich mitunter nicht ganz wie man gesprochene Dialoge kennt. Davon aber einmal abgesehen ist "Die dunkle Mühle" ein Buch, das man nur empfehlen kann, wenn man Geschichte auch gern aus persönlicher Warte betrachtet. Beim Lesen erscheint es einem fast schon schade, dass es immer noch "weiße Flecken" im Stammbaum gibt, die man nicht erkunden kann.

Gerd Scherm hat mit "Die dunkle Mühle" ein Buch geschrieben, das zwar offiziell als "dokumentarischer Episoden- Roman" bezeichnet wird, aber tatsächlich eine Aufarbeitung der Geschichte einer Familie über fünf Generationen darstellt. Der Autor erbringt hier einerseits den Beweis, dass Ahnenforschung nicht langweilig sein muss und zeigt andererseits die persönliche Sichtweise unterschiedlicher Menschen auf zeitgeschichtliche Ereignisse. Eine Tatsache, die das Buch zwar trotzdem nicht interessant für jeden macht, im Gegenzug aber auch keinen Grund aufweist, es irgendjemandem abzuraten - außer jemand hat absolut kein Interesse an Geschichte oder Berührungsängste mit den Verfehlungen von Vorfahren im dritten Reich.

Details

  • Autor*in:
  • Sprache:
    Deutsch
  • Erschienen:
    06/2011
  • Umfang:
    256 Seiten
  • Typ:
    Taschenbuch
  • ASIN:
    3842342918
  • ISBN 13:
    9783842342910
  • Preis (D):
    15,9 €

Bewertung

  • Gesamt:
  • Spannung:
  • Anspruch:
  • Humor:
  • Gewalt:
    Keine Bewertung
  • Gefühl:
    Keine Bewertung
  • Erotik:
    Keine Bewertung

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