Beobachtungen aus der letzten Reihe
Über die Kunst, das Erzählen und wieso wir Geschichten brauchen
von Neil Gaiman
Rezension von Stefan Cernohuby
| 05. Januar 2018
Sitzt man bei einer Veranstaltung in der letzten Reihe, ist man am weitesten vom Geschehen entfernt. Allerdings hat man dann den Vorteil, dass man nicht von hinten mit Popcorn beworfen werden kann. Und man kann sich Gedanken machen. Das hat auch Neil Gaiman getan, in den vielen Jahren, die er bereits in Literaturszene und am Rande der Popkultur unterwegs ist. Aus Reden, Artikeln, Interviews und Vorwörtern aus Romanen und Musikbooklets ist irgendwann das Buch „Beobachtungen aus der letzten Reihe“ entstanden.
Das Leben folgt selten einer klaren Struktur. Insofern ist auch das vorliegende Buch keine chronologische Aufstellung von Artikeln, Reden und Werken. Es gibt allerdings einige vage Orientierungshilfe durch die einzelnen Abschnitte. Das seinem Sohn gewidmete Werk beginnt mit Dingen, an die Neil Gaiman glaubt und über die er an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gesprochen oder darüber geschrieben hat. Darunter sind die vier bedeutendsten Buchhandlungen in Gaimans Leben, wobei es sehr schwer wird, die vierte zu betreten. Es geht um Schriftsteller, deren Werke, deren Welten und ihrem Einfluss. Und es geht darum, unter welchen Umständen man Dinge wagen kann – wie etwa über Amerika zu schreiben.
Neil Gaiman hat eine Menge Leute kennengelernt, auf sehr unterschiedliche Weise. Manche kommen noch öfter im Buch vor, einige werden bereits früh erwähnt, darunter Terry Pratchett und Stephen King.
Danach geht es um die Science Fiction, die für Gaiman und einige andere eher „Speculative Fiction“ sein sollte. Um Ray Bradbury und Fahrenheit 451, Samuel R. Delany und andere.
Filme, Serien und Kino werden erwähnt, darunter seltsame Filmpräferenzen, eigene Produktionen, Gedanken zu Doctor Who und über Comics und ihre Filmableger werden präsentiert.
Comics haben eine wichtige Rolle in Gaimans Leben gespielt und es waren auch sie, die mit dem „Sandman“ seinen Durchbruch markiert haben. Er hat mehrfach über Jack Kirby, Will Eisner und Batman geschrieben und gesprochen. Einiges hat sich über die Jahre geändert.
Es gibt Vorworte, bekannte Musiker, Geschichten über eigene und fremde Feenlande und zuletzt die Aussicht von den billigen Plätzen.
Wer ist Neil Gaiman? Das könnten sich einige Leute fragen, die über das fast 600 Seiten starke Buch stolpern, das als formschönes Hardcover erschienen ist. Lohnt es sich, Gedanken dieses Mannes zu kaufen und dann noch darin zu lesen? Neil Gaiman ist in etwa so etwas wie der Trent Reznor der Literatur. Der unbekannteste Superstar, der immer im Verborgenen gewirkt hat. „Sandman“, „American Gods“, „Coraline“ und „Der Ozean am Ende der Straße“ waren immer Geheimtipps, die oft per Mundpropaganda ausgetauscht wurden. Ja, da war auch „Ein gutes Omen“, das er gemeinsam mit Terry Pratchtett geschrieben hat. Ja, hier auch der „Sternwanderer“, der eine Hollywood-Verfilmung erhalten hat. Und letztlich gibt es auch eine Amazon Prime Produktion zu „American Gods“. So wird ein Mann, der bereits seit den 1980ern in der Popkultur zuhause war, langsam wahrgenommen. Und ernstgenommen, was auch dieses Buch zeigt. Denn das ist keineswegs ein Selbstläufer. Es ist eine Sammlung an Gedanken, an Aussagen. Es ist eine Zusammenstellung an Schnipseln, von denen einige längst überholt sind – wie beispielsweise durch seine spätere Beteiligung an Doctor Who –, von denen nicht jede Nuancen ins Deutsche übermittelt werden konnte („the late“ bei Personen) und die teils von Personen handeln, die man hierzulande kaum kennt. Und dennoch sind es das breite Spektrum an Themen, die verschiedenen Blickwinkel und die verschiedenen Rollen, die Gaiman in seinem Leben eingenommen hat, die das Werk lesenswert und interessant machen. Seine Standunkte. Seine Gedanken. Seine nicht immer unvoreingenommenen Meinungen und Apelle. Das alles zeigt nicht nur einen Schriftsteller, der sich oft im Brennpunkt des Geschehens befindet, sondern auch einen scharfen Beobachter – selbst von den billigen Plätzen aus der letzten Reihe.
„Beobachtungen aus der letzten Reihe“ ist eine Zusammenstellung verschiedener Texte, Reden, Essays und anderer Fragmente aus dem bisherigen Leben von Neil Gaiman. Weder chronologisch noch immer logisch angeordnet, finden sich Geniestreiche, Gedankenfragmente und Apelle in diesem Buch. Wer Gaiman kennt und seine Bücher liebt, der sollte sich das Werk zu Gemüte führen. Denn so nah an seine Gedankenwelt kommt man sonst selten an ihn heran – außer, man hat das Glück ihn persönlich zu treffen.
Details
-
-
Originaltitel:
The View from the Cheap Seats
-
-
-
-
-
-
-
Könnte Ihnen auch gefallen:
Hardcover
Geht man in der Geschichte zurück, um das erste dokumentierte Verbrechen zu identifizieren, findet sich selbiges bereits auf den ersten Seiten des Alten Testaments. Doch im aktuell vorliegenden Werk geht...
Taschenbuch
Wenn man in einer Welt der Mittelmäßigkeit auf etwas Hervorragendes trifft, so ist der Schock darüber mitunter ziemlich groß. Ähnliche Worte werden im Vorwort des dritten Bands von Neil Gaimans "Sandman"...
Taschenbuch
Genre: Graphic Novels
Wenn heutzutage ein neues Comic aus einer Reihe mit dem Titel "Sandman" erscheint, so werden nur noch die wenigsten Comickenner selbige mit den schon etwas anachronistisch anmutenden früheren Reihen der...
Hardcover
Viele Dinge im Leben sind nicht von langer Dauer. Doch manche von ihnen, speziell jene in Form von Erlebnissen und besonderen Momenten, erweisen sich als ausnehmend fragil. Gerade jenes Adjektiv kennzeichnet...
Taschenbuch
Genre: Graphic Novels
Die Tatsache, dass sich in manchen Reihen die Protagonisten selbiger gerne rarmachen, ist bekannt. Dennoch sind Einzelbände, die unter dem Namen einer Serie verfasst sind, in denen die Titelgeber überhaupt...
Hardcover
Genre: Märchen & Sagen
Manche Geschichten eignen sich besser als andere, um in neue oder andere Medien transportiert zu werden. Einige Romane eignen sich gut als Filme, andere wiederum kann man genauso gut als Graphic Novel...
Taschenbuch
Genre: Fantasy
Wenn jemand geistesabwesend zu einem oder mehreren Göttern betet, denkt er eigentlich selten daran, was er damit bewirkt. Das sollte er aber. Denn wie schon verschiedene Autoren in ihren Romanen festgehalten...
Hardcover
Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre. Aber manchmal ist ein Ententeich auch ein Ozean. Ob man die Sache jetzt eher psychologisch oder vielmehr phantastisch betrachtet, kann einen gewaltigen Unterschied...
Taschenbuch
Abstrakte Begriffe sind oft sehr dehnbar, weil sie sich nicht messen lassen. Ein Beispiel dafür wäre ganz bestimmt das Wort "Güte". Wann ist jemand gütig? Ist er es dann, wenn er einem Bettler jeden...
Taschenbuch
Genre: Fantasy
Es gibt Romane, die als Einzelband konzipiert sind und dann dennoch eine erhebliche Anzahl an Folgebänden nach sich ziehen. Andere literarische Werke erblicken ihr Werk als Erstlingsband einer Serie,...
Taschenbuch
Für manche gibt es nur schwarz oder weiß, hell oder dunkel. Auch der Unterschied zwischen Leben und Tod stellt einen solchen Gegensatz dar. Doch beschäftigt man sich literarisch mit der Materie, wird...
Taschenbuch
Auch wenn wir Menschen uns durch unsere Taten während des Wachseins definieren, ist auch der Schlaf lebenswichtig. Nur durch ihn können neue Kräfte getankt werden, um den jeweils nächsten Tag zu überstehen....
Hardcover
Genre: Superhelden
Wenn in besonders geschichtsträchtigen Serien ein neuer Autor übernehmen soll, führt dies immer zu einer gewissen Unsicherheit. Kann „der Neue“ die Vision des Originalautors weitertragen und genauso...
Taschenbuch
Genre: Fantasy
Oft heißt es nach einem Todesfall im Familien- oder Bekanntenkreis, dass man den kürzlich Verstorbenen gar nicht richtig gekannt habe. So vieles, was einem nie wirklich bewusst war, kommt erst nach der...
CD
Odd Vater ist gestorben. Zu allem Unglück hat ein Baum Odds Bein zerschmettert. Eines Tages trifft Odd einen Fuchs, einen Adler und einen Bären, die in Wirklichkeit die Götter Loki, Odin und Thor sind,...
CD
Genre: Fantasy
Die deutsche und die englische Sprache haben viele Gemeinsamkeiten aber genauso viele Details, Regeln und Bedeutungen, die sie voneinander trennen. So ist so manche doppelte Wortbedeutung nur in einer...
Hardcover
Genre: Märchen & Sagen
Manche Geschichten wurden schon tausende Mal und auf tausende Arten erzählt. Besonders wenn es sich um Überlieferungen handelt, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Jene über die nordische...
Taschenbuch
Genre: Graphic Novels
Es gibt unterschiedlichste literarische Werke, die aus verschiedenen Einzelerzählungen bestehen. Ein klassisches Beispiel dafür sind die "Canterbury Tales". Ähnlich aufgebaut und gestaltet ist auch...
Hardcover
Kurzgeschichten stellen eine Literaturform dar, die im deutschsprachigen Raum eher ein Schattendasein führt. Doch was, wenn man diese in eine andere Darstellungsform überträgt, zum Beispiel in Form...
CD
Viele populäre fiktionale Werke unterschiedlicher Genres und Medien basieren darauf, dass sich hinter der uns bekannten Realität noch eine andere befindet, die wir in der Regel nicht wahrnehmen. Darauf...
Taschenbuch
Genre: Graphic Novels
Die verschiedenen Medien im Bereich der Unterhaltung sind häufig über Umwege miteinander verknüpft. Sehr oft werden Romane oder Comics verfilmt; aber manchmal wird auch anlässlich der Verfilmung eines...
Hardcover
Nicht immer ist es die beste Idee, wenn Autoren damit beginnen, die Vorgeschichte zu großen Erfolgen zu schreiben. Ob es nun um "Star Wars" geht, "Dune" oder gar die oft kritisierten "Before Watchmen"-Comics....
Taschenbuch
Genre: Graphic Novels
Betrachtet man die Menschheit mit einem etwas differenzierteren Blick, am besten von außen, kann man an der Existenz von Individuen eigentlich wenig Bemerkenswertes erkennen. Denn gemessen am Alter von...
Taschenbuch
Genre: Graphic Novels
Im Fall von Prequels ist man nur selten völlig unvoreingenommen. Viele Autoren konnten eine Reihe oder eine Welt, die eigentlich zu einem zufriedenstellenden Ende gelangt war, einfach nicht loslassen....